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14 August 2006

(An)teil Bar

Der Pfändungsbeschluß lag aufgeklappt auf dem Schreibtisch. Er rührte sich nicht und es gab auch keinen Donnerschlag. Es war nur ein Stück bedrucktes Papier. Und doch, es war ein gefährliches Stück Papier. Es drohte und knurrte, es hieb mit der Faust auf den Tisch. Es schrie: "Und wenn du nicht sofort...!!!, dann...
Sie seufzte. Ein Teil von ihr stand mit gekreuzten Armen und erhobener Augenbraue da und fragte sich, was für eine Art Prüfung diese Phase ihres Lebens nun wieder darstellte. Ein weiterer Teil brach in Panik aus und rannte kopflos, sich die Haare raufend, durch den Raum. Der bürokratische Anteil ihres Selbst, war einfach entsetzt, daß sie sich mit solchen Begebenheiten befassen mußte. Sie, die in ihrem Leben alle Rechnungen, wenn nicht immer ganz pünktlich, so doch immerhin noch vor der ersten Mahnung bezahlt hatte.
Der Teil der außen regierte, überlegte pragmatische Problemlösung. Alle diese Teile hatten keine Verbindung miteinander.
Doch der panischen Anteil wurde von den anderen radikal unterdrückt. Dieser führte ein fern entkümmertes Dasein, leise gestellt im Hintergrund.
Im Grunde war sie für Katastrophen gebaut. Sogar als Kind, hatte sie nach der ersten Panikempfindung, deren Stimme damals noch lauter sein durfte, sich sehr schnell ins Unvermeidliche gefügt und war auf Lösung geschaltet.
Diese Fähigkeit war in den letzten drei Jahren reichlich abgerufen worden.
Wenn sie nur ans letzte halbe Jahr zurückdachte, fiel ihr zumindest eine Situation ein, die schlimmer war als diese. Die Hausdurchsuchung.
Völlig aus heiterem Himmel, mitten in einer therapeutischen Sitzung hinein platzend.
Doch auch da wieder. Nach dem ersten Schock, hatte sie sogar mit den "Polizisten", wie sie inzwischen gelernt hatte zu sagen, gescherzt. Doch der panische Anteil war ganz dicht unter der oberfläche und machte sich zitternd bemerkbar. Sie fragte sich, ob es wohl anders gewesen wäre, wenn sie sich ihrer Unschuld nicht so bewußt gewesen wäre.
Die übernommene Verantwortung für die beiden Mädchen, die Praxis, den Hausverkauf. Das alles ließ sie ihre stärkste Seite zeigen. Wenn sie nur den Alltag am laufen hielt, dann wähnte sie sich sicher. Alles andere würde sich schon regeln, irgendwie. Doch sie durfte sich nicht im Chaos versinken lassen. Sie war darauf angewiesen, daß im Alltag alles wie am Schnürchen klappte. Das gab ihr das Gefühl immer noch die Kontrolle über die Ereignisse zu haben. Ging dieser Ablauf verloren, war sie sich nicht sicher ihren panischen Teil unter Kontrolle und im Hintergrund behalten zu können. Übermäßige Reaktionen waren dann nicht auszuschließen. Schlimmer noch, sie merkte zum Teil garnicht, daß ihre Reaktionen unangemessen waren. Erst wenn sie die Bestürzung oder das Befremden in den Augen der anderen sah, merkte sie, daß etwas im Verhältnis der Heftigkeit mit der sie reagierte und dem Anlaß nicht stimmte. Sie besaß nämlich auch den Anteil eines feuerspuckenden Drachens. Dieser verteidigte jeweils das verängstigte Kind in ihr. Doch der Drach führte unabhängig vom Kind ein eigenes Leben. Jeder ihrer Anteile konnte ihn ins Leben rufen. Erwar immer Kampf bereit und stand grundsätzlich unter Dampf. Der ruhige, philosophische Anteil fühlte sich häufig gestört, blamiert und aus der Bahn geworfen, durch die alles niederreißende Kraft des Riesen.
Das verspielte Kind in ihr, führte ein gnadenlos freudloses Dasein, noch hinter dem panischen Kind. Es war am verhungern. Körperlich drückte sich das in einer veränderten Faltenbildung aus und daran, daß sie Muskelkater im Zwerchfell hatte, wenn sie, was selten vorkam, mehr als einmal am Tag lachte.
Glücklicherweise war diese Kind jedoch von unstillbarer Neugier. Und es betrachtete alle diese Aufgaben auch als eine Art Spiel. "Wie fühlt sich das an? Wie löse ich dieses Rätsel? Mal sehen ob ich das durchhalte. Vielleicht krieg ich am Ende doch auch eine Belohnung!"
Wie ein Straßenkind, hielt es mit großen hungrigen Augen an allem fest, was auch nur ein wenig Spaß bedeuten könnte. Nachdem sie die erste Hälfte ihres Lebens unabhängig und allein verbracht hatte, brach diese Familie über sie herein.
(Fortsetzung folgt)